Bereits mit der Agenda 2010 sollte vor über 20 Jahren das deutsche Sozialsystem „reformiert“ werden. Damals legte das Bundesverfassungsgericht fest, dass jede*r Hilfsbedürftige ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum habe. Das Ergebnis war die Einführung von Hartz IV, was viele Menschen jedoch in die Armut drängte und ihnen ihre Zukunftsperspektiven nahm.
2022 sollte es dann erneut eine Reform geben. Wieder wurde sie als bedeutende Veränderung beworben und als „die größte“ (Die Grünen) und „wichtigste“ (FDP) Sozialreform bezeichnet. Besonders die SPD wollte Hartz IV endlich „überwinden“. Dabei ging es nicht um die Überwindung einer stigmatisierenden und armutsfestigenden Praxis, sondern vielmehr um ein symbolisches Überwinden. Dafür reichte letztendlich wohl ein neuer Name: Bürgergeld.
Viel Veränderung brachte der neue Gesetzentwurf in der Realität nicht. Ganz im Gegenteil: Die zentralen Punkte, wie Höhe und Umfang der Leistungen, das bürokratische Antragsverfahren, sogenannte Mitwirkungspflichten und die Sanktionspraxis wurden kaum geändert.
Bereits zu Hartz-IV Zeiten wurde die Bemessungspraxis der Regelsätze, die sich an den Ausgaben der untersten Einkommensgruppe und somit Menschen, die bereits in Armut lebten, orientierte, vom Bundesverfassungsgericht als teilweise verfassungswidrig eingestuft. Bis heute hat sich diese Berechnungsmethode kaum verändert. In der Referenzgruppe, die als Berechnungsgrundlage für die Regelsätze dient, befinden sich unter anderem Menschen, die ein Recht auf aufstockende Leistungen hätten. Obwohl sie unter dem gesetzlichen Existenzminimum leben, können sie dieses Recht aufgrund von Unwissenheit oder bürokratischen Hürden nicht in Anspruch nehmen.
Die Regelsätze stiegen mit Einführung des Bürgergelds bei Alleinlebenden zwar um 53€ an und wurden als Erhöhung verkauft, aber eine tatsächliche finanzielle Verbesserung ergibt sich daraus mit Blick auf Inflation und immer weiter steigenden Lebenserhaltungskosten nicht. Denn diese Erhöhung war in der Realität eine verspätete Anpassung an die explodierenden Kosten nach Beginn des Kriegs in der Ukraine. Während im Juli 2022 der Grundfreibetrag an den neuen Höchstwert der Inflationsrate seit 1974 angepasst wurde, wurden die Hartz-IV Regelsätze einfach weiterhin um mickrige 3€ erhöht. Die Regelsatzerhöhung um 53€ war also nach Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Pflicht und diese konnte mit Einführung des Bürgergelds von der Ampelregierung schlichtweg nicht mehr ignoriert werden.
Statt sich an gesetzliche Pflichten zu halten und dafür zu sorgen, dass das Bürgergeld eine tatsächliche Existenzsicherung darstellt und betroffene Menschen nicht in Armut und somit Exklusion gedrängt werden, hetzen Politiker*innen immer wieder gegen Bürgergeldbeziehende.
Diese Hetze und das ständige Infragestellen des Existenzminimums ermöglichen einigen Wenigen Profit, da der Niedriglohnsektor so weiter ausgebaut werden kann, die neoliberale Ideologie weiter verbreitet und das kapitalistische System stabilisiert wird. Denn letztendlich dienen Sozialleistungen wie das Bürgergeld nur zur Linderung der durch den Kapitalismus entstehenden prekären Lebenslagen und niemals zur Behebung der Ursachen. Die eigentliche Kritik gilt also einem System, das Menschen nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit unterteilt und den Reichtum einiger Weniger durch die Armut vieler anderer erst ermöglicht. Zudem dient es den Profiteuren der kapitalistischen Politik Menschen in prekären Lebenslagen gegeneinander auszuspielen.
Statt sich zu fragen, warum vermögende Politiker*innen neben einem mehr als ausreichenden Gehalt noch Lobbyeinnahmen verzeichnen, warum Vorstände sich millionenschwere Boni auszahlen können, warum es immer mehr Multimilliardär*innen gibt, während gleichzeitig immer mehr Menschen in Armut leben, werden Sozialleistungen wie das Bürgergeld oder auch Asylbewerberleistungen zum Problem erklärt. So werden beispielsweise 100% Sanktionierungen von Bürgergeldempfänger*innen, also die komplette Aussetzung des Bürgergelds, als effektive Sparmaßnahme verkauft und keine*r spricht mehr über milliardenschwere Vermögen, ausbeuterische Lohnverhältnisse und all die Probleme, die aus dem Kapitalismus resultieren.
Das heißt für uns: Auch wenn wir uns für höhere Regelsätze, einen Abbau der bürokratischen Hürden und gegen Sanktionen einsetzen, wollen wir zeitgleich darstellen, dass das ursprüngliche Problem Armut ist, die im Kapitalismus notwendig für dessen Erhaltung ist.
Gerade in Zeiten der Krise und des Rechtsrucks ist es wichtig, auf Missstände wie steigende Armut und immer prekärer werdende Lebenslagen aufmerksam zu machen, sie nicht als naturgegeben zu betrachten und neoliberale Narrative aufzudecken und zu kritisieren. Denn Armut bedeutet mehr als nur keine finanziellen Mittel zu haben, es bedeutet ein höheres Risiko krank zu werden, weniger Beteiligungsmöglichkeit an politischen, gesellschaftlichen und sozialen Prozessen. Armut bedeutet in einer Welt, an der an allen Ecken Konsumzwang herrscht und immer mehr öffentliche Räume privatisiert werden vor allem eins: Exklusion. Dieser Exklusion wird durch das Bürgergeld keineswegs entgegengewirkt. Im Gegenteil: Die Ampelkoalition hat es durch ihre „größte und wichtigste Sozialreform“ geschafft, Armut und die daraus entstehende Exklusion weiter zu verfestigen.
Leider bedeutet das Scheitern der Ampelkoalition kein Ende dieser menschenfeindlichen Politik. Das (Wieder-)Erstarken konservativer und rechter Parteien wie CDU und AfD bringt dieselben neoliberalen Narrative mit sich, die sich an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Menschen orientieren. Es ist also davon auszugehen, dass Menschen in und am Rande der Armut immer weiter in prekäre Lebenslagen gedrängt, die Unterstützungen in diesen Lebenslagen gekürzt und die Zugänge erschwert werden.